Immer mehr Altenheime pleite
Das Pflege-Fiasko
Durch die Pflegebranche rollt eine Pleitewelle: Hunderte Altenheime stehen vor der
Insolvenz. Wie konnte ein System, das vor Kurzem noch renditehungrige Konzerne
anlockte, so schnell in Schieflage geraten?
Seinen Ruhestand hatte Udo Brückel sich anders vorgestellt. Der Pflegeheimbetreiber wähnte sich in Italien, in einem Häuschen in der Toskana. Über 30 Jahre lang liefen die Geschäfte rund, die Betten in seinem Seniorenheim Sinntal waren voll belegt. Bald wird Brückel 70, und statt auf Olivenhaine schaut er weiter auf den Garten, durch den die Alten ihre Rollatoren schieben. Im Februar hat sein Heim Insolvenz angemeldet, auch Brückels aufgelöste Altersvorsorge reichte nicht, um das Haus durch die Krise zu bringen. An die Toskana ist nicht mehr zu denken. Er versucht jetzt, »zu retten, was zu retten ist«. Den Laden so lange wie möglich am Laufen zu
halten. Schon, weil es nicht allein um ihn geht. Sondern um 25 Menschen, die dachten, dass sie den letzten Umzug ihres Lebens bereits hinter sich hätten. Niemand weiß, was aus dem Heim wird. Ob sich noch ein Investor findet. Oder eine Bank Erbarmen zeigt. Und ob Brückels Sohn David, der das Unternehmen vor acht Jahren übernahm, noch eine Chance hat. Oder bald eine Familientradition zu Ende geht. Schon Brückels Mutter hatte sich nach dem Krieg um Alte und Kranke gekümmert. Ihre Kinder wuchsen in einer alten Villa zwischen Pflegebedürftigen auf. Brückels Schwester ist gelernte Altenpflegerin, alle drei Brüder eröffneten später ein eigenes Heim. Udo ist der Erste von ihnen, der vielleicht für immer schließen muss. Gute, bezahlbare Pflege, sei »eine Berufung«, sagt er. Aber »gewiss kein Geschäftsmodell«, auf das sich noch bauen ließe. Rund 11.700 Heime gibt es nach offiziellen Zählungen in Deutschland. Oder vielleicht sollte man besser sagen: Gab es. In diesen Wochen wird der Pflegemarkt von einer Pleitewelle überrollt, die Experten fassungslos macht. »Es ist normal, dass immer wieder mal ein Heim Insolvenz anmelden oder gar schließen muss«, sagt Matthias Gruß, Gewerkschaftssekretär für Gesundheitswesen und -politik bei Ver.di. »Nicht normal ist, welche Ausmaße das annimmt.«
Es trifft Häuser im Norden wie im Süden, es trifft kleine Familienbetriebe ebenso wie große Player mit Tausenden Betten und wohlklingenden Kunstnamen: Auch die Unternehmensgruppen Convivo, Curata oder Dorea mussten in den vergangenen Wochen Insolvenz anmelden. Selbst Wohlfahrtsverbände wie die Caritas oder das Deutsche Rote Kreuz schließen Häuser.
Nicht aus jeder Insolvenz folgt automatisch, dass ein Heim für immer aufgeben muss. Manchmal geht es nur darum, sich mit staatlicher Hilfe zu sanieren. Doch der Trend ist unübersehbar, das große Schrumpfen hat begonnen. Allein im vergangenen Jahr verschwanden nach Angaben des Branchendienstes pflegemarkt.de 142 Heime und 431 Pflegedienststandorte vom Markt. Der private Arbeitgeberverband Pflege AGVP zählte allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres rund 200 Insolvenzen – und warnt: »In Deutschland droht ein Heimsterben.«
Zurück bleiben verzweifelte Angehörige, die niemanden mehr finden, der Oma oder Opa betreut. Fast fünf Millionen Menschen zählte das Statistische Bundesamt Ende 2021 als pflegebedürftig. Bis 2035, so die offizielle Schätzung, wird ihre Zahl auf 5,6 Millionen klettern – und das ist die vorsichtige Prognose. Und so steuert das Land in eine fatale Gleichzeitigkeit: Eine beharrlich wachsende Nachfrage trifft auf ein Angebot, das ebenso beharrlich sinkt. Schon deshalb, weil es viel zu wenig Pflegekräfte gibt, die den Betrieb am Laufen halten könnten. Keine andere Branche spürt die Folgen des Arbeitskräftemangels stärker. Heinz Rothgang, Gesundheitsökonom der Universität Bremen und Berater der Bundesregierung, sieht einen »perfekten Sturm« für die Branche aufziehen, gespeist aus Inflation, höheren Zinsen und Personalknappheit. »Das alles macht die Situation sehr kritisch.« Wie konnte ein Markt, der über Jahre als lukrativ galt, der Familienbetrieben ein verlässliches Geschäft sicherte und renditehungrige Konzerne anlockte, derart schnell zusammenbrechen?
Die Fehler im System
Ginge es allein um die Nachfrage, würde das Seniorenheim Sinntal aus allen Nähten platzen. In die grünen Hügel rund um das Staatsbad Brückenau, einst beliebtes Ziel von Bayernkönig Ludwig I., zieht es viele Ruheständler. Beinahe täglich, erzählt Udo Brückel, trudelten Anfragen ein. Dumm nur, dass er und sein Sohn schon lange keine neuen Bewohner mehr aufnehmen können. In dem Örtchen mit sechs Heimen war die Personallage schon immer knapp. Dass in der Coronazeit viele Mitarbeiter aufgegeben hätten, habe seiner Firma »das Genick gebrochen«, sagt Brückel. Von den 50 Betten kann er nur noch die Hälfte belegen, und mit jedem leeren Bett schrumpfen die Einnahmen. Die Inflation gab seinem Unternehmen den Rest, die Kosten für Strom, Heizung, Lebensmittel und für Umbauten schnellten in die Höhe.
»Die Lücke wurde zu groß«, sagt Brückel. »Das ist für einen Familienbetrieb nicht zu stemmen.« Am Ende wollten die Banken kein Geld mehr geben. Und auf die ausstehenden Überweisungen der Sozialämter wartet er bis heute. Über 25.000 Euro, rechnet Brückel vor, stünden ihm für seine Bewohner noch zu. Weil die selbst oft pleite sind, überfordert von den explodierenden Heimkosten, springt der Sozialstaat für sie ein. Das allerdings dauert oft Monate. Voran gehen zermürbende Kämpfe, in denen die Senioren am Ende ihres Lebens ihre Kontoauszüge und Rentenbescheide offenlegen und im Zweifel Hinweise auf das Einkommen ihrer Kinder geben müssen. Dass viele Heime finanziell nicht mehr klarkommen, geht auch auf einen Systemfehler zurück: Die Pflegeversicherung ist seit Jahren chronisch unterfinanziert – und zum Teil war das politisch gewollt. Sie wurde bei ihrer Einführung im Jahr 1995 als Teilkaskomodell konzipiert und deckt nur einen Teil des Pflegerisikos ab. Für den größeren Rest der Heimkosten, vor allem für Unterkunft und Verpflegung, müssen die Senioren selbst aufkommen. Wie sich die Preise zusammensetzen, ist für die Versicherten schwer zu verstehen. Die Heime verhandeln mit Pflegekassen und Sozialhilfeämtern darüber, wie viel die Betreuung eines Menschen für ein ganzes Jahr kosten darf. Aus diesem Pflegesatz leitet sich ab, wie viel die Betreiber den Pflegebedürftigen in Rechnung stellen dürfen. Dass in dem Konstrukt einiges schiefläuft, zeigen die traurigen Rekorde des Jahres 2023: Noch nie mussten Bewohnerinnen und Bewohner so viel aus dem eigenen Portemonnaie für ihren Heimplatz zahlen wie heute. Bundesweit sind es durchschnittlich etwas mehr als 2400 Euro. Pro Monat. Inzwischen ist jeder dritte Pflegebedürftige auf Stütze angewiesen. Frank Kadereit ist Geschäftsführer von zwölf Seniorenzentren des Evangelischen Vereins für Innere Mission (EVIM). Er hat in seinem Berufsleben schon Dutzende Pflegesatzverhandlungen geführt. An keine erinnert er sich gern. Es gehe stets nur darum, »genügend herauszuquetschen«, sagt er. Kadereits besonderer Ärger gilt dem »Beköstigungstag« – der Frage also, wie viel das Essen für die Senioren pro Tag kosten darf. Insgesamt 3,80 Euro habe ihm eine Kasse jüngst offeriert für Frühstück, Mittag, Kaffee und Kuchen sowie Abendessen eines Pflegebedürftigen. Kadereit forderte drei Euro mehr und legte eine Liste samt Großhandelspreisen vor: eineinhalb Brötchen, eine Scheibe Brot, 15 Gramm Butter, 40 Gramm Quark zum Frühstück. Was er davon bitte streichen solle? Nach langen Debatten sagten die Verhandler 6,20 Euro zu. Halbwegs ohne Verluste könne man nur durch das Jahr kommen, wenn man die Budgetgespräche in McKinsey-Manier durchfechte. Zwei Prozent Aufschlag auf Sach- und Personalkosten habe ihm die Barmer Krankenversicherung als Spielraum für Unvorhergesehenes zugestanden, um das unternehmerische Risiko abzusichern. Unerwartete Ausgaben könne man damit nicht auffangen, meint Kadereit. Mit der Folge, dass die wenigsten Heime einen finanziellen Puffer haben, um Krisen wie die Pandemie oder die Inflation abzufedern. Die Barmer erklärt, der Verhandlungsauftrag sei gesetzlich geregelt, festgeschrieben sei die »angemessene Vergütung des Unternehmerrisikos«, allerdings müssten auch die Beiträge stabil bleiben. Tatsächlich steckt die Pflegeversicherung in einem Dilemma: Sie muss den Betreibern ein Auskommen garantieren, damit diese genug Heimplätze anbieten. Zugleich sollen die Renditen so überschaubar wie möglich bleiben, weil sie sich auch aus Versichertengeldern speisen – gezahlt von vielen Menschen mit bescheidenen Einkommen. Und: Je höher die vereinbarten Pflegesätze würden, desto höher läge am Ende auch die finanzielle Belastung der Bewohner, wie es beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung heißt. Das Problem ist kaum zu lösen. So hält das System den ökonomischen Druck auf die Heime hoch: Ihre Finanzierung
geht nur auf, wenn ihre Betten zu mehr als 95 Prozent belegt sind.
Maximal drei Tage, so erzählt es ein Betreiber aus Nordrhein-Westfalen, könne man sich Zeit lassen, wenn eine Bewohnerin verstorben sei, um auszuräumen, das Zimmer zu streichen – und es wieder neu zu belegen. Mit Abschiedskultur habe das wenig zu tun: »Man stellt sich moralische Fragen, wenn man den Sohn um zehn Uhr informiert, dass seine Mutter gestorben ist – und ihn zwei Stunden später fragen muss, wann er ihre Sachen aus dem Zimmer abholen kann. «Schon in normalen Zeiten ist die Belegungsquote kaum zu erreichen. Derzeit aber ist nichts normal. Arbeitgeberverbände rechnen vor, dass private Betreiber im Schnitt gerade mal 82 Prozent ihrer Betten auslasten können, weil es an Mitarbeitern mangelt. Große Anbieter lassen deshalb ganze Heimtrakte verwaisen. Und manches kleine Haus macht gar nicht erst auf.
Die Personalkrise
Jochen Kandziorra, Chef des Caritasverbandes Breisgau-Hochschwarzwald, hat im Glottertal ein neues Pflegeheim hochziehen lassen. Das Haus steht nicht irgendwo am Ortsrand, sondern mittendrin, zwischen Schulhof und Sportplatz. Die Gänge sind lichtdurchflutet, von den karierten Sesseln in den Sitzecken fällt der Blick auf die Hügelkette des Kaiserstuhls. Die 45 Betten lassen sich digital überwachen, es gibt einen Friseursalon, ein Wellnessbad und üppige Balkone. Im März vergangenen Jahres zogen die ersten Seniorinnen und Senioren ein, bis zum Sommer waren es 28. Im November musste der Caritas-Mann sein Heim dichtmachen. Für ihn war es »schockierend«. Nun sitzt Kandziorra in einem leeren Haus, ein kleines Kreuz neben dem Caritas Sticker am Revers. Neben ihm hält Bürgermeister Karl Josef Herbstritt den Kopf gesenkt und knetet die Hände, als würde er beten. Für seinen Ort ist es ein herber Verlust, für Kandziorra ein echtes Trauma. Der katholische Verband hat schon viele Pflegeheime gebaut. Eines zu schließen, »war niemals denkbar«. Doch der Caritas im Breisgau blieb keine Wahl, sie findet schlicht keine Mitarbeiter. Von den sechs Pflegekräften, die anfangs im Glottertal anheuern wollten, seien nur zwei geblieben. Der Rest? Abgeworben von Kliniken drumherum. Gastronomie, Hotels, alle suchten Personal, sagt Bürgermeister Herbstritt, »und die Pflege steht bei vielen Bewerbern am Schluss«. Bundesweit fehlen in der Branche derzeit gut 18.000 Fachkräfte, rechnet das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) vor. Dauerte es im Frühjahr 2015 im Schnitt noch vier Monate, eine offene Stelle zu besetzen, sind es inzwischen neun. Und die Lage dürfte sich weiter verschärfen. Von Juli an gelten neue gesetzliche Personalschlüssel, sie schreiben vor, wie viele qualifizierte Kräfte und wie viel Hilfspersonal ohne Ausbildung ein Heim einsetzen muss. Das Konzept folgt einem hehren Ziel: Es soll für bessere Arbeitsbedingungen sorgen. Nicht für alles, so die Idee, braucht es eine examinierte Pflegefachkraft. Auch Hilfspersonal könnte den Senioren das Essen anreichen oder sie nachts auf die Toilette begleiten. Das sei menschenwürdiger, als die Alten in Windeln sich selbst zu überlassen, weil die Fachkräfte keine Zeit finden. Das Problem ist, dass niemand weiß, woher die Beschäftigten kommen sollen. Rechnerisch könnten durch die neuen Vorgaben gut 47.000 Vollzeitkräfte zusätzlich fehlen. Im Glottertal sieht man, wie fatal die Lage jetzt schon ist. Kandziorra hat alles versucht. Auch im Ausland warb er mithilfe der Bundesagentur für Arbeit um Personal. Mit zehn Kandidaten von den Phillippinen verabredete er sich zur Videoschalte. Weil sie erst Deutsch lernen mussten, hätten sie frühestens in eineinhalb Jahren einreisen können. Über Vermittlungsfirmen suchte er Fachkräfte aus Tunesien und Indien. Die aber hätten Monate auf Visatermine bei den Botschaften warten müssen. Wie sollte er so planen?
Schließlich ging Kandziorra den Weg vieler Betreiber: Er heuerte Fachkräfte bei einer Zeitarbeitsfirma an. Ihre Zahl in der Altenpflege steigt rasant, allein in den vergangenen zwei Jahren ist sie um knapp 38 Prozent auf rund 17.000 Kräfte gewachsen. Ein Modell mit Tücken.
Normale Stammbeschäftigte, so erzählt es ein Heimbetreiber, kosteten ihn brutto 38 Euro pro Stunde. Für eine Leiharbeitnehmerin zahle er mindestens 62 Euro. Gewerkschaften kennen auch Verträge mit weitaus höheren Preisen. Ein großer Teil der Summe gehe an die Vermittlungsfirmen. »Trotzdem liegen die Löhne der Beschäftigten in der Leiharbeit oft um bis zu 30 Prozent über denen der Stammbelegschaft«, sagt Ver.di-Experte Gruß. Wer als Mitarbeiter im Heim zermürbt ist von unplanbaren Diensten, Nachtschichten und Feiertagseinsätze, rettet sich immer häufiger in die Zeitarbeit, wo man sich die Schichten aussuchen kann. Zurück bleiben die Stammbeschäftigten, bei denen Belastung und Frust weiter steigen. Ein Teufelskreis. Die Pflegekassen übernehmen lediglich einen Teil der Mehrkosten für die Zeitarbeiter. Wer sie anheuert, zahlt drauf. Kandziorra hätte das sogar gern gemacht. Sein Notbehelf versagte aus anderen Gründen. Weil er immer wieder neue Arbeitskräfte einweisen musste, gerieten die Abläufe durcheinander. Viele Mitarbeiter hätten nicht genau dokumentiert, was in ihrer Schicht passierte. Wäre etwa ein Bewohner gestürzt, hätten die anderen Kollegen davon möglicherweise nichts erfahren. Das System mit Zeitarbeitern »funktioniert nicht«, sagt er. Das Risiko sei einfach zu groß. Als die Heimleitung Alarm schlug, habe er das Haus schließlich geschlossen. Nun hofft er weiter, dass sich irgendwo Personal findet. Er setzt jetzt auf einen Kurs für Quereinsteiger.
Die Suche nach Größe
Der Pflegeheimmarkt in Deutschland, geprägt durch die großen Wohlfahrtsverbände, galt lange Zeit als verschnarcht. Bis in den Neunzigerjahren die gesetzliche Pflegeversicherung eingeführt wurde. Seither dürfen auch private Anbieter ihre Leistungen mit den Kassen abrechnen. Auf diese Weise wollte die Bundesregierung für ein größeres Angebot an Heimen sorgen. Das gelang anders als gedacht. Auch internationale Konzerne enterten den Markt, Private-Equity-Firmen pressten hohe Renditen für ihre Anteilseigener aus dem System – und selbst kleine Anbieter entwickelten Wachstumsfantasien. Gerade in der zurückliegenden Niedrigzinsphase galt die Pflege als lohnendes Investment: Betreiber beschafften sich bei Banken und Investoren zu günstigen Konditionen Kapital, legten Häuser zusammen und sparten dadurch Kosten. Ein Geschäftsmodell, das Gefahren birgt: »Wer als Kette daraufgesetzt hat, auf Pump zu expandieren, hat bei steigenden Zinsen ein Problem«, sagt Gesundheitsökonom Rothgang. Alle großen Betreiber, die es in den vergangenen Monaten erwischte, waren in den Jahren zuvor stark gewachsen: Hansa, Curata, Dorea – oder die Convivo-Gruppe aus Bremen.
Letztere ist seit 2001 am Markt und hat sich auf über hundert Einrichtungen aufgeplustert – bevor das Firmenkonstrukt im Januar zusammenfiel. Convivo beantragte für Dutzende seiner Betreibergesellschaften Insolvenz. Die ersten Heime mussten schließen. Dass das Convivo-Wohnstift im niedersächsischen Urlaubsort Hooksiel dennoch eine Zukunft hat, liegt an den besonderen Verflechtungen in der Branche: Viele Betreiber bauen nicht mehr selbst, sondern mieten ihre Häuser von speziellen Pflege-Immobilienunternehmen. Convivo konnte für sein Heim in Hooksiel die Miete an den schwedischen Immobiliengiganten Hemsö nicht mehr zahlen. Deshalb übernahm Hemsö den Betrieb kurzerhand selbst und setzte externe Berater in der Hausleitung ein. »Bis das Heim stabilisiert ist, wird es allerdings noch Monate dauern«, sagt Hemsö-Deutschlandchef Jens Nagel. Das Chaos, das Convivo in Hooksiel angerichtet habe, sei enorm. »So etwas habe ich in mehr als zwanzig Berufsjahren noch nicht erlebt.« Pflegeheim-Mitarbeiterin Daniela Westerhoff – tätowierte Arme, breites Lächeln – hat das Versagen von Anfang an miterlebt. Nach der Übernahme habe Convivo nicht mal eine neue Heimleitung installiert, nachdem die vorherige aufgab. In der Firmenzentrale sei völlig unklar gewesen, wer für die Anliegen der Mitarbeiter zuständig war. Der Abstieg des Heimes verlief klassisch: Stammmitarbeiter flohen, Zeitarbeitskräfte waren teuer, die Aufsicht verhängte einen Belegungsstopp, statt 64 Bewohnerinnen und Bewohnern durfte Convivo nur noch 30 versorgen. Weil Einnahmen fehlten, hörte Convivo irgendwann einfach auf, Rechnungen zu bezahlen. Lebensmittellieferanten stoppten ihre Dienste, die Wäsche wurde tagelang
nicht gewaschen. »Zum Glück sind Angehörige eingesprungen«, erzählt Westerhoff. »Die Zustände waren wirklich schlimm.« Brancheninsider werfen dem Unternehmen grobe Managementfehler vor.
Convivo-Geschäftsführer Torsten Gehle, ehemaliger Pfleger, habe die Heime nach dem Kauf sich selbst überlassen. Convivo streitet das ab. »Wir haben keine Managementfehler gemacht«, sagt Andreas Weber, Leiter der Unternehmensentwicklung. Viele Jahre sei die Strategie des starken Wachstums erfolgreich gewesen. Allerdings hätten sich Ende vergangenen Jahres »eine Vielzahl exogener Krisen überlappt«. Am Ende fehlten Rücklagen, um die Verluste durch Inflation, Energiepreisschock und Unterbelegung auszugleichen. »Das geht vielen Betreibern in der Branche so«, sagt Weber. In der Insolvenz hat die Größe des Konglomerats einen Vorteil: Muss eines der Häuser schließen, findet sich vielleicht irgendwo in der Gruppe eine neue Unterkunft für die Senioren. Margarete Szeleschus ist vor vier Wochen in den zweiten Stock des Hooksieler Wohnstifts gezogen. Zuvor wohnte sie in einem Convivo-Heim in Wilhelmshaven, das quasi über Nacht geschlossen wurde. Für sie sei das ein Schock gewesen. Jetzt sitzt die 88-Jährige in ihrem Sessel, ein Tischchen mit Häkeldecke vor sich, und
hat beschlossen, die Dinge pragmatisch zu sehen. In Hooksiel gefalle ihr der Blick auf den Garten, in Wilhelmshaven habe sie auf einen Parkplatz geschaut. Andere Senioren hätten am Ortswechsel mehr zu knabbern. Wo die alle gelandet seien, wisse sie nicht.
Die Angst von Bewohnern und Beschäftigten
Die Unsicherheit, ob und wie lange der Betrieb nach einer Zahlungsunfähigkeit weiterläuft, weckt viele Sorgen. Bei denen, die in einem Heim leben. Und bei denen, die dort arbeiten. Am 29. März meldete die Novent-Unternehmensgruppe ein vorläufiges Insolvenzverfahren in Eigenverantwortung an. Fünf Tage später erhielten die Seniorinnen und Senioren im Bremer »Haus im Weidedamm« ein sperriges Informationsbeschreiben. Den »strukturellen Herausforderungen für deutsche Alten[1]und Pflegeheime« habe man anders nicht mehr begegnen können, heißt es darin. Gisela Prusseit ist in ihrem Leben schon viel herumgekommen. Davon zeugen die Andenken in ihrem Wohnzimmer: Gemälde aus Hongkong. Holzelefanten aus Sri Lanka. Und die in strahlendem Gelb und Grün getünchten Wände erinnern an ihre Zeit in Portugal. Als sie ihre Möbel vor zehn Jahren in das Apartment für betreutes Wohnen schleppen ließ, glaubte sie, es werde für den Rest ihres Lebens sein. Nun fürchtet die 82-Jährige, dass sie noch einmal Kisten packen muss. »Ich neige nicht zur Panik«, sagt sie. »Ich hoffe, dass wir alle hier wohnen bleiben
können, in den Apartments und im Pflegebereich. Aber das ist kein schönes Gefühl.« Der Fall Novent zeigt die Kapriolen eines Marktes, auf dem Seniorenheime wie Spielsteine verschoben werden. Erst im April 2022 hatte die frisch gegründete Holding 16 Häuser mit insgesamt rund 1700 Betten vom Branchenriesen Korian übernommen. Bis zur Pleite verging kaum ein Jahr. Noch Anfang März verleibten sich die Alloheim Senioren-Residenzen, die zum Private-Equity-Konzern Nordic Capital gehören, fünf Novent Häuser ein. Nun hat es Alloheim auf Reste aus der Insolvenzmasse abgesehen. Der Heimriese betreibt nach eigenen Angaben 254 Häuser in Deutschland, beim Bundeskartellamt hat der Konzern bereits die Übernahme von Novent-Heimen in Bielefeld und Flensburg angemeldet, die Behörde stimmte dem Deal Anfang April zu. Größe gilt als ein Hebel, um der Krise zu trotzen. Wer genug Häuser betreibt, findet irgendwo immer noch Sparpotenzial. Das Haus im Weidedamm gilt als Premiumobjekt, es wäre erstaunlich, wenn sich
kein Investor fände. An schwindelerregend schnelle Eigentümerwechsel ist man in Bremen gewöhnt. Vor Novent und Korian gehörte das Heim der Curanum-Gruppe, die es ihrerseits einem anderen Betreiber abgekauft hatte. Drei Monate lang, bis Ende Mai, kommt die Bundesagentur für Arbeit über das Insolvenzgeld für die Nettolöhne der Beschäftigten auf, um Novent zu entlasten. Allerdings bangen die Beschäftigten um ihre Zuschläge, die separat überwiesen werden. In vielen Fällen bedeuten sie ein Plus von monatlich bis zu 150 Euro. Wer viele Nachtdienste schiebt, kann sogar auf 500 Euro zusätzlich kommen. Die ersten Kolleginnen haben sich krankgemeldet. »Die Luft ist raus, die Leute können nicht mehr«, sagt Betriebsrätin Doris Cicek, die seit 30 Jahren als Pflegekraft arbeitet.
Wenn es gut läuft, könnten Zeitarbeiter für eine Weile einspringen. Wenn es schlecht läuft, schmeißen die Beschäftigten für immer hin. Bei jeder Insolvenz gibt es diese Gefahr. »Pflegekräfte finden schnell woanders einen Job«, sagt Cicek. »Aber um die Bewohner täte es mir leid. Sie verlieren ein Zuhause.« In Bremen ist es schon jetzt schwierig, einen Heimplatz zu finden. Brancheninsider überlegen bereits, wo sich im Notfall Senioren unterbringen ließen. Überall in Deutschland gibt es Regionen, in denen Angehörige Dutzende Kilometer weit fahren müssen, um Oma und Opa unterzubringen, in Nordrhein-Westfalen kündigen ambulante Pflegedienste sogar laufende Verträge. Die Diakonie hat angesichts der prekären Lage gerade die Versorgungssicherheit in der Pflege abgefragt. Über 600 Heime und Pflegedienste nahmen bis Ende April an der Umfrage teil. Vier von fünf gaben an, dass sie ihre Leistungen einschränken müssen. Neue Kunden haben kaum Chancen. 70 Prozent der Heime belegen nicht mehr alle Betten. So gerät auch jene Arbeitsteilung an ihre Grenzen, auf die sich die moderne Gesellschaft über Jahre eingestellt hat: Dass erwerbstätige Erwachsene professionelle Anbieter suchen, die sich um die Älteren kümmern. An fehlende Pflegekräfte »werden wir uns gewöhnen müssen«, sagt Michael Isfort vom Deutschen Institut für Angewandte Pflegeforschung. »Wir müssen mit dem Mangel leben lernen«. Wie das gehen soll? Mit Mehrgenerationenhäusern etwa. Oder mit mehr Hilfen für
Familien, damit sie sich selbst um Oma und Opa kümmern können. Glaubt man Isfort, bleibt keine andere Wahl.
Das Geschäftsmodell der Altenpflege drohe zu »implodieren«
Von Cornelia Schmergal, Florian Diekmann, Kristina Gnirke und Henning Jauernig
07.05.2023, 06.59 Uhr • aus DER SPIEGEL 19/2023